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DegitalisierungDas elfte Gebot

Angesichts einer möglichen faschistischen Zukunft dürfen wir vor allem eines nicht tun: gleichgültig sein. Speziell auch dann, wenn es um technologische Entwicklungen und Überwachung geht. Und wenn wir nicht gleichgültig sind, dann sind wir auch nicht allein.

Ein weißes Ikonogramm einer Alarmglocke auf rotem Hintergrund
Bei Gleichgültigkeit sollten bei uns die Alarmglocken schrillen. CC-BY-NC-ND 2.0 philippe leroyer

Die heutige Episode von Degitalisierung muss politisch werden. Leider. Denn Gleichgültigkeit ist keine Lösung. Vor allem nicht nach den politischen Ereignissen der letzten Wochen. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, nach den Messerattacken in Solingen und der sich abzeichnenden autoritären Zeitenwende, gesteigert durch digitale Überwachungsfantasien.

Doch der Reihe nach. Das Grundthema dieser Kolumne ist ja – seit den ersten mühsam gefundenen Worten – schon immer die Frage, inwieweit schlecht gemachte Digitalisierung das Gegenteil von dem bewirken kann, was gut gemachte Digitalisierung eigentlich bewirken könnte. In dieser Ausgabe müssen wir uns wohl etwas näher mit dem Gedanken beschäftigen, was Digitalisierung unter anderen politischen Rahmenbedingungen tun könnte. Unter autoritären oder faschistischen Regierungen etwa. Das ist insofern wichtig, als eine Gleichgültigkeit heute die Schrecken einer möglichen faschistischen Zukunft immens beschleunigen könnte.

Dass unsere Gleichgültigkeit heute ein Problem für die Zukunft sein kann, ist aber nicht immer allen bewusst. Und damit beginnen die Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem, wie wir heute sinnvolle und resiliente digitale Lösungen schaffen können.

Dann kannste auch nichts machen?

In den vergangenen Jahren habe ich einige öffentliche Vorträge gehalten. Oftmals ging es um … Digitalisierung. Nach einem dieser Vorträge, es ging wohl um Digitalisierung der Verwaltung oder des Gesundheitswesens – es ist für den Punkt, den ich machen möchte, nicht wichtig –, kam eine etwas ältere Person auf mich zu. Sie meinte, dass ich das alles zu kritisch sähe. Das mit der massenhaften zentralisierten Datenspeicherung von persönlichen Daten und der IT-Sicherheit und dem Datenschutz müsse ich entspannter betrachten. Nach längerer Diskussion kamen wir dann irgendwann auf den folgenden Punkt zu sprechen: Es ist aus meiner Sicht fatal, heute Systeme zu bauen, die in irgendeiner Art und Weise digitale Allmacht über Einzelpersonen oder über Teile der Bevölkerung oder die ganze Bevölkerung ermöglichen würden.

Dann kam die Antwort, die bei uns allen die Alarmglocken schrillen lassen sollte: „Na ja, wenn eine faschistische Regierung kommt, dann kannste da auch nichts machen.“

Ganz egal, was in baldiger oder längerfristiger Zukunft passieren sollte: Seid nicht diese Person. Seid niemals nie eine Person, der irgendwas gleichgültig ist. Seid nicht gleichgültig. Vor allem, wenn es um Politik oder Technik oder andere Dinge geht, die euch erst mal vermeintlich nicht betreffen, andere Menschen aber schon.

Marian Turski, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz, bezeichnete das 2020 als das elfte Gebot. Seid nicht gleichgültig. Seid nicht gleichgültig.

Noch mal: Seid nicht gleichgültig.

Wenn wir das elfte Gebot jetzt verinnerlicht haben, was sind die Konsequenzen für die Art, wie wir kritisch und konstruktiv zugleich mit Digitalisierung umgehen müssen? Zunächst einmal sollten wir ein Gefühl dafür entwickeln, wann uns Menschen aus welchen Gründen auch immer in eine Gleichgültigkeit gegenüber einem bestimmten Thema treiben möchten – auch wenn die Motive nicht immer die gleichen sein mögen. Speziell im Digitalen.

Rise of the Machine Overlord

Nun kann es verschiedene Motive haben, bei Menschen entweder fanatische Begeisterung – oder zumindest keinen Widerstand – gegen das eigene Handeln auslösen zu wollen. Nicht selten hat das aber stumpfe, kapitalistische Beweggründe.

Der aktuell immer noch anhaltende KI-Hype wird nicht selten von dem reinen Glauben an irgendeine Art von mystischer Wirkmächtigkeit der Technologie in der Zukunft getrieben. Diese vermeintliche Wirkmächtigkeit dient als Rechtfertigung dafür, bisherige gesellschaftlich vereinbarte Grenzen zu überschreiten.

Dabei gibt es grob zwei unterschiedliche Geisteshaltungen, um am Ende nichts gegen den Einsatz von Techniken der sogenannten Künstlichen Intelligenz zu tun, ganz im Gegenteil: AI-Doomer und AI-Accelerationisten.

Die Doomer, die an den baldigen Untergang durch Künstliche Intelligenz glauben und arbeiten dennoch auch an der Weiterentwicklung von KI, nur mit dem Ziel, den prophezeiten Untergang zu verhindern. Dann sind da die AI-Accelerationisten, die auch an der schnellen Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz arbeiten, um möglichst bald irgendeinen Zustand von Artificial General Intelligence (AGI) zu erreichen, weil dann irgendeine Utopie möglich wäre.

Doomer schreiben manchmal öffentlichkeitswirksam Briefe, um auf den drohenden Untergang hinzuweisen, machen dann aber auch nichts weiter dagegen.

Beiden gemein ist das Versprechen einer größeren mythischen Macht durch künstliche Intelligenz, für oder gegen die man jetzt ganz schnell alles tun müsse. Das trägt Züge faschistischer Ideologie.

Große Probleme wie Bias, digitaler Kolonialismus, immenser Ressourcen- und Energieverbrauch, hohe Machtkonzentration, ungehemmter Datenkonsum, Plagiarismus und Desinformation werden dabei im Sinne des größeren Ziels eher totgeschwiegen. Bei der Entwicklung von vielen KI-Systemen werden alle diese erheblichen Probleme bewusst ignoriert.

Am Ende geht es dann meist nur um die Entwicklung des 102. großen Sprachmodells mit drei Prozent besseren Werten in irgendwelchen Benchmarks oder den 53. Bild- oder Videogenerator für Bilder oder Videos, die keinen tieferen Sinn haben. Nur selten geht es um tiefergehende Probleme wie medizinische Forschung, die Bekämpfung des Klimawandels oder das Verhindern des Artensterbens. Das wären die Probleme, die uns nicht gleichgültig sein sollten.

Seid nicht gleichgültig. Speziell wenn euch irgendwer eine geradezu mystische Wirkmächtigkeit einer bestimmten Technologie vorpredigt, um dann am Ende nur Texte zu erzeugen, die kein Mensch liest und Bilder zu erstellen, die keine Aura haben.

Überwachung ohne Überwachung

Nach schrecklichen Ereignissen wie den Messerattacken in Solingen wird oftmals eine wohlbekannte Forderung gestellt: mehr Überwachung, mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden, mehr Durchgriffsmöglichkeiten.

Nicht selten werden hier lange vorbereitete politische Forderungen wie die Vorratsdatenspeicherung wieder aus der Mottenkiste geholt. Anlasslose Kontrollen gehören auch zum Forderungskatalog. Was oftmals nicht so laut gesagt wird: Dass viele Gewalttaten sehr häufig schon eine Vorgeschichte haben. Dass viele Gewalttaten eher die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bereits bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen zeigen, sei es wegen schlechter Ausstattung, fehlender Fähigkeiten oder schlicht zu wenig Personal.

Bemerkenswert an der aktuellen Diskussion sind die leisen sofortigen Widersprüche auf politische Impulshandlungen, etwa zu Waffenverbotszonen. So folgte auf die Ankündigung von Waffenverbotszonen in Berlin prompt der Hinweis der Berliner Gewerkschaft der Polizei, dass Messerverbotszonen nicht kontrollierbar seien.

Einigkeit herrscht derweil bei dem Thema Videoüberwachung mit KI, allerdings, so die Berliner Innensenatorin Spranger: „Ob wir dies zur Identifizierung von Straftätern nutzen können, werden wir prüfen.“ Klingt eher nicht nach einer ausgereiften Technologie, die nachweisbar mehr Sicherheit bringt, sondern eher nach einem Experiment mit Problemen mit allerlei Grundrechten und europäischer Gesetzgebung.

Das ist aber auch nicht so wichtig in dem Kontext, denn seltsamerweise herrscht zumindest fast immer Einigkeit darüber, dass „eine überhöhte Interpretation des notwendigen Datenschutzes nicht wieder die innere Sicherheit gefährden und Menschenleben kosten“ dürfe, so der Berliner Landes-Chef der Gewerkschaft der Polizei, Stephan Weh.

Sicherheitspolitik ist prinzipiell etwas, was nicht von Impulshandlungen geprägt sein sollte. Vor allem dann nicht, wenn die mythische Lösung mittels Technik als solche nach wie vor nicht ausgereift ist, Minderheiten diskriminiert und schlicht grundrechtswidrig ist. Jede Form von geplanter Überwachung braucht selbst konsequente Überwachung, um nicht in einem möglicherweise faschistischen Überwachungsstaat zu münden.

Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn jemand Scheinlösungen fordert, die letztlich nur einem möglichen Überwachungsstaat helfen, ohne wirklich mehr Sicherheit zu bieten. Seid nicht gleichgültig, auch dann nicht, wenn es eure Grundrechte erst mal nicht direkt zu betreffen scheint.

Findet Verbündete, bildet Netze

In dieser Zeit von aufkommendem Faschismus, Überwachungsfantasien und Techbros mit Maschinenallmachtsfantasien müssen wir uns bewusst sein, dass wir nie alleine den Gefahren unserer Zeit gegenüberstehen. Wir haben Verbündete.

Haltet euch nicht an die, denen es gleichgültig ist. Findet Verbündete. Bildet Banden. Bildet Netze.

Dazu vielleicht zwei Hoffnung machende Anekdoten, dass ihr Verbündete, zumindest im Geiste, manchmal an ganz ungewöhnlichen Stellen finden könnt.

Die Doktorin etwa, die ihren flammenden Vortrag für die Digitalisierung in der Medizin, den dafür notwendigen Datenaustausch und Forschung mit der inständigen Bitte an die Politik schloss, sich noch stärker gegen den aufkommenden Faschismus einzusetzen. Menschen, denen die möglichen negativen Konsequenzen ihres Handelns selbst bewusst sind, sind ideale Verbündete für bessere digitale Lösungen.

Manchmal hilft auch ein Gespräch mit Menschen aus der Zivilgesellschaft von anderen Kontinenten: Irgendwie drehte sich unser Gespräch um digitale Identitätssysteme. Bereits die zweite Frage lautete, wie wir in Europa mit so umfassenden digitalen Systemen und faschistischen Regierungen umgehen würden, welche Fehler wir besser nicht machen sollten. Räumlich eigentlich sehr weit entfernt, gedanklich aber so nah. Es wäre schwer, in ihrem Land offen darüber zu sprechen, aber hier in Europa sollten wir das konstruktiv und kritisch jetzt diskutieren, bevor wir es nicht mehr tun können.

Es gibt nicht überall nur Gleichgültigkeit, auch wenn es gerade so wirkt. Seid nicht gleichgültig. Dann seid ihr schon gemeinsam.

19 Ergänzungen

    1. Am 02.08.2021 schrieb Torsten Kleinz im Spiegel
      https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/cdu-denkfabrik-cnetz-eine-app-fuer-deutschland-a-75b2b2f0-5505-4ddb-b9f7-246db5a29eed

      Zitat: „Selbst im besten Fall: Was wäre gewonnen? Nur weil man hundert Apps zu einer vereint, heißt das noch lange nicht, dass diese dadurch benutzbarer wird. Allein schon die Frage, welchen Diensten man in einer solchen App das Recht geben will, Push-Nachrichten aufs Handy zu schicken, dürfte gewissenhafte Bürgerinnen und Bürger ein verregnetes Wochenende kosten. Für den Rest gäbe es wohl nur eine Flucht aus der Komplexität: die Deutschland-App zu löschen. Aus der DE-gitalisierung wird die DE-Installation.“

      Kleinz wählt die Schreibweise „DE-gitalisierung“ und meint Deutschland-Digitalisierung.

      Am 10.07.2022 startet Bianca Kastl mit der Kolumne „Degitalisierung“.
      https://netzpolitik.org/2022/degitalisierung-was-von-digitalisierungsversuchen-uebrig-blieb/

      Zitat: „Statt zu Digitalisierung kommt es zu Degitalisierung: dem Gegenteil dessen, was Digitalisierung erreichen könnte.“

      Insofern, lieber Paul, liegst Du mit „Fehlleistung“ zwar richtig, mit der „Freud’schen“ jedoch daneben: Digitalisierung in Deutschland (DE-gitalisierung) ist vielfach „Probleme schaffen statt lösen“ (Kastl), also Degitalisierung.

  1. Ich finde es bedauernswert, dass der Satz „Na ja, wenn eine faschistische Regierung kommt, dann kannste da auch nichts machen“ vermutlich bewusst missinterpretiert wird, und auch noch ein Generationskonflik heraufbeschworen wird indem betont wird dass die Mitarbeiterin, die auf sie zu kam älter war.
    Der Person war Faschismus ziemlich sicher nicht egal, wie sie ihr hier unterstellten sondern so würde ich den Satz interpretieren dass sich eine wirklich faschistische Regierung einen (hier verzeihe man mir bitte meine Wortwahl) Dreck um die Vorschriften kümmern würde und eine solche Datenbank recht schnell recht ungezügelt anlegen würde. Leider ist es so dass mit dem Ruf nach dem Schutz vor dem „faschistischen Überwachungsstaat“ dem Big Brother oftmals genau diese Faschisten geschüzt werden und jene die Geschützt werden sollen leider gefährdet werden. Um zwei nicht konkrete aber hoffentlich nachvollziehbare Beispiele zu nennen. Eine Datenbank für genetische Erkrankungen kann sicher von einem faschitischen Staat zu wirklich schlimmen Dingen missbraucht werden, aber es kann halt auch bei der Erforschung evtl Behandlung jener helfen. Ebenso wird ja gerne vor der totalen Überwachung durch den Staat gewarnt, jedoch andererseits gerne kritisiert dass gegen faschistische Untriebe im Netz nichts getan wird… leider braucht man gerade dafür eben jene Mittel der Überwachung.
    Um auf meinen Obigen Kritikpunkt zurückzukommen für mich klingt jener zentrale Satz absolut anders als sie ihn für diesen Artikel nutzen. Für mich war diese Frau nur eine Vertreterin des „man muss auch die Möglichkeiten sehen und nicht nur vor den Gefahren warnen“.
    Ein anderes Beispiel Ihr fast hämischer Kommentar zu der Prüfung von „KI“ Einsatz zur Überwachung, dass ein Testen nicht nach einer Ausgereiften Technik klingt. Nein diese Technik ist nicht ausgereif, aber wenn man es nicht unter Aufsicht austestet wie soll sie?

  2. Der Tenor des Artikels „Seid niemals gleichgültig!“ gefällt mir sehr gut. Was mir allerdings immer wieder auffällt, nicht nur in Artikeln von Netzpolitik.org, ist die Tatsache, dass immer auf eine düstere Zukunft verwiesen wird, wenn bestimmte blaue oder braune Männchen an die Macht kommen.

    Es wird vollkommen verkannt, dass anlasslose Massenüberwachung, missbräuchlicher Einsatz von Digitalisierung, Einführung von digitalen Gesundheitsnachweisen, Zugangskontrollen, u.v.m. schon längst Mainstream sind. Erdacht und durchgesetzt von, in der Vergangenheit und aktuell Regierenden. Der Faschismus ist schon längst wieder eingekehrt bei uns, und zwar vollkommen ohne Zutun der bösen Rechten. Die braucht man nämlich gar nicht um Missbrauch und Willkür zu betreiben.

    Neben „seid niemals gleichgültig“ würde ich „Fühlt euch niemals moralisch überlegen“ für einen wichtigen (Glaubens-)Satz halten und darum bitten genau hinzuschauen aus welcher Himmelsrichtung der Faschismus eigentlich kommt!

  3. Hier im Wortlaut die Rede von Marian Turski am 27. Januar 2020 anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz:
    https://auschwitz.info/de/gedenken/gedenken-2020/2020-01-27-marian-turski-das-elfte-gebot.html

    Daraus Zitat:
    „Wir in Europa stammen mehrheitlich aus der jüdisch-christlichen Tradition. Sowohl gläubige, als auch nicht gläubige Menschen betrachten die zehn Gebote als ihren zivilisatorischen Kanon. Mein Freund, der Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees Roman Kent, der vor fünf Jahren an dieser Stelle beim letzten Jubiläum eine Rede gehalten hatte, konnte heute nicht hierher kommen. Er hat sich ein 11. Gebot ausgedacht, das die Erfahrung der Shoah, des Holocausts, der schrecklichen Epoche der Verachtung darstellt. Es lautet: Du sollst nicht gleichgültig sein.“

    Die Idee eines elften Gebots geht also auf Turskis Freund Roman Kent zurück. Nun kann man Traditionen gegenüber kritisch sein, vor allem wenn sie religiös begründet sind. Auch mag man nicht mit allen zehn Geboten als „zivilisatorischen Kern“ einverstanden sein, z.B. „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ Aber das was Kent formuliert und Turski vorgetragen hat, ist so tiefgründig wie einfach, so bescheiden wie großartig.

    „Du sollst nicht gleichgültig sein!“ ist ein universeller Imperativ, der als Aufforderung jeden anspricht, und dem man sich als zur (positiven) Empathie befähigter Mensch nicht entziehen kann/soll.

    Gleichermaßen betrifft „du sollst nicht gleichgültig sein!“ das eigene Handeln, und fordert damit zu Rücksicht auf.

    1. „Wir in Europa stammen mehrheitlich aus der jüdisch-christlichen Tradition. Sowohl gläubige, als auch nicht gläubige Menschen betrachten die zehn Gebote als ihren zivilisatorischen Kanon.“

      Nö. Das ist so falsch wie anmaßend.

      Unser Recht ist römisch, unser Staatsverständnis griechisch. Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaat, Demokratie mussten alle gegen die christlichen Kirchen und Politiker erkämpft werden.

      1. > Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaat, Demokratie mussten alle gegen … Politiker erkämpft werden.

        Das wäre zu erläutern, denn so oberflächlich wie das formuliert ist, ist das mindestens irreführend, und ich hoffe nicht, dass dies so beabsichtigt ist. Der Kampf gegen kirchliche Mächte sei mal geschenkt, aber

        a) wann wurde Wissenschaftsfreiheit gegen welche Politiker erkämpft?
        b) wann wurde der Rechtsstaat gegen welche Politiker erkämpft?
        c) wann wurde Demokratie gegen Politiker erkämpft?

        Das „wann“ ist in diesem Zusammenhang ebenso wichtig wie „gegen welche Politiker“, denn es waren in allen Fällen eben auch Politiker, die Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaat und Demokratie erkämpft und institutionalisiert haben.

        1. Der Bezug zu Gegenwart und näherer Zukunft:

          ad a) wann wurde Wissenschaftsfreiheit gegen welche Politiker erkämpft?
          —> Wer bedroht heute Wissenschaftsfreiheit und wie?
          Finanzierung von Forschung und Lehre. Einwerben von Drittmitteln, „Gekaufte Wissenschaft“, und die FDP: https://de.wikipedia.org/wiki/Bettina_Stark-Watzinger#Versuchter_Eingriff_in_die_Wissenschaftsfreiheit_(%E2%80%9EF%C3%B6rdergeldaff%C3%A4re%E2%80%9C)

          ad b) wann wurde der Rechtsstaat gegen welche Politiker erkämpft?
          —> Wer bedroht den Rechtsstaat heute mit welchen Mitteln?
          Der Rechtsstaat kann durch Veränderung der Verfassung parlamentarisch geschleift werden. Unterwanderung rechtsstaatlicher Institutionen.
          Zusatzfrage: Welche Parteien behindern derzeitig die Absicherung des BGH als gefährdete Institution gegen mögliche rechtsautoritäre Angriffe?

          ad c) wann wurde Demokratie gegen Politiker erkämpft?
          —> Wer bedroht Demokratie heute mit welchen Methoden?
          Die Demokratie wird in allererster Linie durch gefährliches Wählerverhalten bedroht. Demokratie kann demokratisch abgewählt werden, indem demokratiefeindliche Parteien zwar legal die Regierungsmacht erlangen, aber danach ihre Macht destruktiv einsetzen und eine demokratisch legitimierte, aber autoritäre Herrschaft etablieren. In EU-Mitgliedsstaaten gibt es Beispiele in Realtime dazu.

  4. Bitte die Kolumnen von Bianca Kastl mit dem existierenden tag verschlagworten:
    (22297, {’name‘: ‚Kolumne Bianca Kastl‘, ’slug‘: ‚kolumne-bianca-kastl‘})

  5. > „Dabei gibt es grob zwei unterschiedliche Geisteshaltungen, um am Ende nichts gegen den Einsatz von Techniken der sogenannten Künstlichen Intelligenz zu tun, ganz im Gegenteil: AI-Doomer und AI-Accelerationisten.“

    Es gibt interessante und gruselige KI-Entwicklungen, aber die Welt wird nicht untergehen.

    1. Es stellt sich unmittelbar die Frage von Verantwortung, in welche Richtung Entwicklungen getrieben werden. Aber das Wort „Verantwortung“ scheint im KI-Sprachraum schon getilt worden zu sein.

      Das Bild vom „Untergang der Welt“ ist übrigens eine eine der früheren Flat-Earthler-Perspektiven.
      Von „Welt“ würde aber niemand mehr sprechen können, wenn der Planet einst nicht mehr in blau-weissen Farben um die Sonne kreisen wird.

      Doomer wie Accelerationisten sind lustfixierte Spinner.

    2. „aber die Welt wird nicht untergehen.“

      Für wen? Das ist immer lustig, wenn Leute sagen, die Welt ginge nicht unter, aber 90% aller Menschen sterben oder Jahre bis Jahrzehnte lang gefoltert werden. Der Anspruch einer Zivilisation auf die zugehörige Latte, muss da diesen Tick weit höher angesetzt werden.

      Das sind auch bei Forschern keine Geisteshaltungen. Das Prinzip der Superintelligenz ist keine Räuberpistole, sondern ein Fragezeichen. Ebenso die möglichen Steigerungen, ein Fragezeichen. Beispiel Chips: Man kann nicht einfach immer größere Chips bauen, weil die Leitungswege dann zu lang werden. Also man kann schon, aber es skaliert eben nicht so.

      Das ist wie mit den roten Linien bei Putin. Es gibt Propaganda usw., aber die Annahme, es gäbe gar keine, wäre dann doch etwas naiv? Ähnlich mit Super-KI. Regierende währen gut beraten, im Bilde zu sein, was an Ansätzen probiert wird, und wer wie weit ist. Ähnlich bei Quantencomputern. Dazu braucht man Geheimdienste.

      1. „Dazu braucht man Geheimdienste.“

        Es sollte allerdings ein wissenschaftliches Fundament geben, dass man das überhaupt einschätzen kann. Ab da stellt sich die Frage, wer ein X hat oder auch nicht.

      2. „Beispiel Chips“
        Das Beispiel ist auch gut, weil hier massive Performanceverbesserungen durch Mittel erreicht wurden, die diese Chips im Sicherheitskontext wiederum angreifbar machen, wobei Patches in Microcode, Firmware und Software wiederum eine ganze Ecke Performance kosten, falls sie überhaupt funktionieren. Abstellen der Features wäre z.T. eine Performancekatastrophe im Vergleich.

      3. „aber 90% aller Menschen sterben oder Jahre bis Jahrzehnte lang gefoltert werden“
        Das ist natürlich als Übertreibung gedacht. Verarmung ist auch nicht cool. Unterjochung (auch de facto) auch nicht, usw. usf., bis zu zerstörter Zukunft, Lebensentwürfen etc.

        Man kann dann immer sagen, man hätte noch was vor sich, und immerhin sei man ja am Leben, aber man muss auch die Fairness haben zu erkennen, dass auf der Welt immer weniger zu verteilen ist, bei immer mehr Teilnehmern, betrachtet bzgl. technischer bzw. wirtschaftlicher Stufen. D.h. die Innovationen dürfen gerne in den Bereichen „energieeffizient“ (bis wir Energie haben) und „braucht keine knappen Resourcen“ passieren ;).

        Im Moment ist KI der Versuch, Facebook und Google zu wiederholen. Schnell vorwärts und Dominanz am Markt erreichen, zuzüglich etwas Euphorie und Neugier, die sich aber schnell relativieren. Zu trennen von Dominanz bei KI, die sich in der Wirtschaft vieleicht zwar aus kommerziellem Erfolg speisen könnte, aber nicht muss. Dabei ist den Akteuren vermutlich egal, ob das die Welt weiter an den Abgrund bringt. Hier geht es um geostrategischen Vorteil, Abgriefen der Märkte und Etablieren von Macht. D.h. bei den herumliegenden Milliarden, lohnt sich der Versuch vielleicht für die Großen. Am Ende erlauben wir womöglich nur noch größere Datenstaubsaugerei, ohne substantiell etwas gewonnen zu haben.

      4. > Für wen? Das ist immer lustig, wenn Leute sagen, die Welt ginge nicht unter, aber 90% aller Menschen sterben oder Jahre bis Jahrzehnte lang gefoltert werden.

        Würden diese 90 % auch ohne KI sterben oder gefoltert werden?

        > Es gibt Propaganda usw., aber die Annahme, es gäbe gar keine, wäre dann doch etwas naiv?

        In *dem* Moment klänge aber auch die Annahme naiv, dass die Ukraine bzw. die NATO *keine* Propaganda, Desinformation und Trollarmeen betreibt. Aber das ist schon wieder eine andere „can of worms“.

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